Die Arbeiten der Künstlerin Cristina Ohlmer entziehen dem Blick den Boden: Ihre Serie „Acqua tonica“ ist jetzt im Schwarzen Kloster zu sehen
Das Gefühl der Unsicherheit ist unvermeidbar. Immer, wenn sie eine Ausstellung vorbereite, sagt Cristina Ohlmer, stehe sie Höllenängste aus. Nicht, weil sie ihre Arbeiten dann einer Öffentlichkeit präsentieren muss, von der sie nicht weiß, ob sie vielleicht gerne an der Oberfläche hängt, dort wo in der Regel die Farben sind, oder wenigstens Struktur, Material, Handwerk, und die bei ihren Bildern deshalb zunächst kaum etwas sehen wird. Nein, Angst hat Cristina Ohlmer, weil ihre Arbeiten aus Glas sind. Weil auf keinen Fall etwas schief gehen darf – nicht beim Transport und nicht bei der Hängung „Glas ist gnadenlos“, sagt sie, „man kann nichts vertuschen. Wenn es bricht, dann lässt es sich zwar kleben, aber die Bruchstellen bleiben sichtbar.“
Seit rund fünf Jahren arbeitet die Freiburger Künstlerin mit Glas, mit seiner vagen Faszination und den Assoziationen, die es auslöst, während man sich auf seiner Oberfläche und in seiner Tiefe verliert. Dabei geht es ihr nicht um eine Feier des Materials: An Glas interessiert die 40-jährige nur seine besondere Qualität – die Klarheit, die Lichtdurchlässigkeit, die Reflexe -‚ die es ihr erlaubt, Bilder als komplexe Systeme, als Räume anzulegen, in denen der Betrachter sich und seiner direkten Umgebung ständig wieder gegenübersteht, wie in den Schaufenstern und den verspiegelten Fassaden, die die Perspektiven des Stadtraums unendlich multiplizieren. Auch in dieser Hinsicht ist Glas gnadenlos, sagt Ohlmer, es entlässt uns weder aus unserem eigenen Blick auf uns selbst noch aus dem tausendfach gespiegelten Raum. Cristina Ohlmer interessiert sich schon lange für die Idee der Unendlichkeit, für die Möglichkeit, Bilder zu produzieren, aus denen sich immer wieder neue herauslösen, die untereinander und mit dem Betrachter in Beziehung stehen.
An der Wand ihn ihrem Atelier hängen drei kleine Formate, 40 mal 40 Zentimeter, die sie in den frühen 90er Jahren gemalt hat. Auf einem windet sich in endlosen Schleifen ein schmales Band über dunklen Grund, ein weißer Strich, der mit jeder Bewegung auslöscht, was in seiner Spur erscheint und so Ebene für Ebene al les und schließlich auch sich selbst tilgt. Die Leute, denen sie diese Bilder damals zeigte, waren ratlos. Informel war doch schon seit Jahren vorbei. War das nicht längst eine Sache für Kunsthistoriker?
Vielleicht war es das. Für Cristina Ohlmer hatten die Bilder jedoch nichts mit Informel zu tun. Für sie waren sie ein Versuch, das Ende der Malerei, auf das alle Kunstgeschichte hinschreibt, seit Ad Reinhardt und Robert Ryman ihre schwarzen und weißen Leinwände präsentiert hatten, hinauszuzögern und schließlich aufzulösen in einem „weißen Rauschen“, das in seiner formlosen Gestalt alle Bilder enthält. Das rauschende Bild ist nicht Oberfläche, sondern ein virtueller Raum, ein Fenster, das sich in der Leinwand öffnet und das auf ein unendliches Reservoir der Bilder, der Projektionen hinausweist.
Mit ihren „Tele marmorate“ von 1995 wechselte Ohlmer das Material, um diese Idee umsetzen zu können. Statt mit Farbe arbeitete sie nun mit Quarzsand, den sie schichtweise auf die Leinwand brachte. Unscharfe Schlieren schienen sich hinter der Oberfläche abzuzeichnen wie ein Bild hinter dem Bild; wenig später erweiterte sie dann ganz offen die zweite in die dritte Dimension: In ihrer mehrteiligen Serie „Zeichenbrut“ (1997) stapelte Ohlmer je 20 quadratische Glasplatten übereinander, in die sie jeweils Zeichnungen von fliegenden Elfen eingebrannt hatte. Von unten beleuchtet formierten sich die Zeichnungen zu Zeichenschwärmen und -körpern, die in der Tiefe eines grünlich-gläsernen Sumpfes trieben. Die „Zeichenbrut“ machte im wahrsten Sinne des Wortes transparent, dass ein Bild nicht Oberfläche, sondern ein System räumlicher Bezüge ist.
In Cristina Ohlmers jüngster Arbeit „Acqua Tonica“ (2000), die ab heute in der Städtischen Galerie Schwarzes Kloster zu sehen ist, ist diese Idee radikal weiterentwickelt. Rund ein Dutzend Glasscheiben, jeweils ein mal eineinhalb Meter groß und in strengem Rhythmus gehängt, zeigen auf den ersten Blick kaum mehr als das Spiegelbild des Betrachters. Im Vorbeigehen setzt sich der reflektierte Raum in Bewegung und beginnt, die Orientierung nachhaltig zu stören. Feine Linien schieben sich über die Wand hinter dem Glas, so fein, dass man näher herantreten muss, um zu erkennen, woher sie kommen. Es sind die Schatten von Menschen und Barinterieurs, die Ohlmer in durchsichtiger Zeichnung auf das Glas gebrannt hat. Fast aus dem Nichts lösen sich hier Figuren aus den Bildern wie Terminatoren der neuesten Generation: farblose Flüssigkristallkörper, die sich im Bildraum verlieren, den Rücken zugewandt, und in durchsichtigen Spiegeln wieder auftauchen, aus denen einen ihre Blicke treffen und den Betrachter für einen Moment ins Glas hineinziehen wie in Wasser und Eis.
Die Entfesslung der Perspektiven, die Ohlmer mit diesem gläsernen Spiegelkabinett betreibt, hat etwas Atemberaubendes: „Acqua tonica“ ist der Versuch, den Begriff der Reflexion als das gebündelte Spektrum seiner Bedeutungen zu definieren: als System der Lichtbrechung, der Gedankenbrechung und der Blickbrechung bis zum Orientierungsverlust.
(Dietrich Röschmann, Zeitung zum Sonntag, 04. März 2001)