Götter auf dem Grabbeltisch (2022)

Cristina Ohlmer öffnet Fenster in eine andere Realität

Unsere Spezies ist von allen guten Göttern verlassen. Jetzt herrscht „Götterschlussverkauf“. So betitelt Cristina Ohlmer eine großformatige Zeichnung. Mit liebevoller Ironie verdichtet sie in der All-over-Komposition Eindrücke vom Antikmarkt in Peking: Dort teilen sich Buddha- und Götterfiguren die Verkaufsfläche, werden für den spirituellen Gebrauch zu Hause offeriert. Wer meint, eine Figur aus industrieller Massenproduktion von diesem Göttergrabbeltisch pflücken zu sollen, kann ein Souvenirjäger oder ein gläubiger Mensch sein: Eine billige Gottesfigur mag freilich nicht nur in Asien dieselbe Anerkennung genießen und ebenso ehrfürchtige Betrachtung auf sich ziehen wie ein monumentales Standbild. Ohlmers Arbeit transportiert eine vielschichtige Aussage und besitzt zeitlose Gültigkeit.

Die Werke der hintergründigen Künstlerin wollen gewissermaßen immer auch von hinten gesehen und ikonografisch dechiffriert werden. Mit der Kenntnis ihrer Vita erschließt sich nicht zuletzt aufs Filigranste das Konzept der pfm-Sammlung, die regionale und globale Kunst fördert und vereint, wobei der Brückenschlag zwischen europäischen und chinesischen sowie taiwanesischen Positionen die seit Langem konsequent verfolgte Leitlinie des weltoffenen und asienaffinen Sammlerpaares ist.

Ohlmer nahm im Jahr 2007 einen Lehrauftrag an der chinesischen Tianjin Academy of Fine Arts wahr. 2010 ermöglichte ihr ein Stipendium den Aufenthalt in Peking. Bei der Vorbereitung ihres Museumsprojekts im Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum stieß sie zufällig auf ihren Vorfahren, den Seezolldirektor Ernst Ohlmer (1847-1927), dessen chinesischen Porzellanschatz das Haus hütet. Motive daraus greift sie 1999 in ihrer Werkreihe „Kisten“ auf. Fragen zu Zeit, Geschichte und der ästhetischen Emanzipation von Gebrauchsformen beschäftigen sie, und sie überträgt sie in ihre charakteristischen Zeichnungen. In unterschiedlichen Medien – Zeichnung, Malerei, Hinterglasmalerei, Film -, aber auch als Objekt- und Installationskünstlerin ist sie tätig. Ohlmer denkt choreografisch auch im Sinne von Arrangement, Struktur und Koordination. Ihre Vielseitigkeit verblüfft und fasziniert. Mitunter fließen Erfahrungen in Bereichen der darstellenden Kunst in ihre Werke ein, darunter Raumkonzeptionen und Licht-Klang-Inszenierungen.
Die zweidimensionale Zeichnung, der sie virtuos zarteste Details einbeschreibt, übersetzt sie zuweilen in Objekte, vorzugsweise solche, die Licht reflektieren. Die in Glas eingebrannte Zeichnung – zur pfm-Sammlung gehören zwei Arbeiten aus dem Jahr 1999 mit dem Titel „Vase“ -, ist das Resultat des Versuchs, Präsenz in der Durchsicht zu erzielen. Die Kisten sind aufgebaut wie Guckkastenbühnen. Mehrere hintereinander gestaffelte Glasscheiben suggerieren Tiefenperspektive bei größtmöglicher Transparenz. Experimente mit der Gestaltung und Wahrnehmung von Raum durchziehen das Schaffen der Künstlerin. Sie betrachtet ein Bild grundsätzlich in Bezug auf etwas, das davon unterschieden werden kann und nicht als Abbild von etwas: Sie sucht eine andere Realität. Diese kann erträumt sein. Spiegelung und Reflektion sind Ohlmers zentrale Strategien. Ihre Kunst ist unaufdringlich, aber sie setzt sich doch – odergerade deshalb – auf der Netzhaut fest.

(Dorothea Baer Bogenschütz for catalogue: pfm medical, improving quality of life since 1971, Janine & Aurel Schoeller, pmf medical ag)

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